Im Zuge des Krieges in der Ukraine und dessen Auswirkungen auf den Kraftstoffpreis hat die Ampelregierung mit einem Vorstoß für ein 9 Euro-ÖPNV-Ticket für Aufsehen gesorgt. Das wäre eine sehr weitgreifende und für den deutschen ÖPNV fast schon revolutionäre Maßnahme, um mehr Menschen in die öffentlichen Verkehrsmittel zu bringen. Da uns das Thema schon länger umtreibt, haben wir von Nuts One bereits in den letzten Wochen an einem Text über neue Ticketoptionen im ÖPNV gearbeitet. Dieser erlangt aufgrund der Ankündigung des 9-Euro-Tickets eine neue Bedeutung. Da aktuell allerdings noch nicht entschieden ist, ob und wie das 9-Euro-Ticket umgesetzt wird, folgt nun ein Überblick über alternative neue flexiblere Ticketoptionen im Nahverkehr:
In Deutschland gibt es mehr als 120 Verkehrsverbünde und damit einhergehend eine noch eine viel größere Anzahl an Tarifmöglichkeiten. Viele Tarife (z.B. Monats- oder Jahreskarten) sind dabei sehr starr und geben wenig Spielraum zur individuellen Gestaltung der Fahrkonditionen. Dem gegenüber steht eine zunehmend flexiblere (Arbeits-)Welt mit einer großen Zahl von individuellen Gestaltungsmöglichkeiten. Starre Ticketoptionen sind dafür nicht immer passend und sollten ergänzt werden. Mehr Flexibilität in Verbindung mit einer „Best Price“-Garantie im ÖPNV-Tarifdschungel würde die Nutzung für viele Fahrgäste vereinfachen und die Eintrittsbarriere für neue Kund:innen senken. Individuellere Tarif- und Ticketingsysteme könnten daher die Zufriedenheit der Nutzenden des ÖPNV erhöhen. Wir haben uns einige flexible Ticketoptionen in Deutschland sowie im europäischen Ausland genauer angesehen und diese aus Kund:innensicht miteinander verglichen und eingeschätzt.
Die verschiedenen Ticketing-Systeme stellt uns Hanna vor, eine fiktive Person, wohnhaft in Berlin. Hanna ist seit wenigen Jahren berufstätig und hat schon immer aus verschiedenen Gründen auf das eigene Auto verzichtet. Seit der Pandemie ist Hanna das Jahresticket ein Dorn im Auge, da sie den ÖPNV nicht mehr mit der gleichen Regelmäßigkeit nutzt. Sie hat stärkere Büro- und Homeoffice-Phasen und im Sommer fährt sie darüber hinaus auch sehr gerne und viel Fahrrad. Bereits seit Jahren wünscht sich Hanna mehr Flexibilität in den Ticketoptionen des Nahverkehrs.
Flexticket (Berliner Verkehrsbetriebe, BVG):
Hanna war ganz begeistert als sie auf Twitter vom Flexticket der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) las und sah darin eine Alternative für ihr Monatsticket.
Das Ticket kostet 44€ (Tarifbereich AB), wofür die Kund:innen acht 24h Tickets erhalten, die in 30 Tagen eingelöst werden können. Beworben wird das Ticket mit einer Ersparnis von 26,40€ gegenüber dem Kauf von acht einzelnen Tagestickets und der guten Vereinbarkeit von Berufstätigen im Homeoffice.
Das Flexticket wurde für Personen, welche sehr bedarfsorientiert und situationsabhängig den ÖPNV nutzen, geschaffen. Die Beschränkung der Gültigkeit auf 30 Tage grenzt diese Möglichkeiten der bedarfsorientierten Nutzung aber ein.
Hanna hat das Flexticket ausprobiert und kommt zu dem Schluss: Ökonomisch sinnvoll ist das Ganze für sie nur, wenn sie an den acht Tagen im Monat jeweils mehr als drei Fahrten unternimmt. Mit dem Blick auf das Homeoffice, womit die BVG das Ticket bewirbt, ist Hanna quasi „gezwungen“ freizeitliche Wege oder Besorgungen nur an den Bürotagen zu machen. Hanna findet das eigentlich eher unflexibel, weil sie ihr Privatleben dadurch noch viel stärker um diese acht Tage herum bauen muss, oder sich für Freizeitaktivitäten an anderen Tagen extra Einzelfahrscheine kaufen muss.
Individuelle Tarifzone (Karlsruher Verkehrsbetriebe, KVV Homezone):
Der Karlsruher Verkehrsverbund bietet die Festlegung eines individuellen, kreisrunden Tarifbereichs mit 28 Tagen Gültigkeit an. Der Preis berechnet sich auf Basis eines Grundpreises je nach Radius und ÖPNV-Angebot im gewählten Gebiet.
Die Flexibilität scheint relativ hoch zu sein, da sich der Radius beliebig verorten und in einen Rhythmus von 28 Tagen anpassen lässt. Dadurch kann der Radius beispielsweise so gelegt werden, dass Wohnort, Arbeitsort und auch wichtige Freizeitlokalitäten innerhalb der eigenen Homezone liegen. Verlässt man diesen Radius, muss ein normales Ticket gelöst werden. Eine kostengünstige tagesweise Erweiterung des individuellen Radius könnte hier für mehr Flexibilität sorgen. Wünschenswert wäre die Verlängerung der Gültigkeit auf 30 oder 31 Tage, was einem regulären Monatszyklus entspricht.
Hannas Freundin hat das Ticket ausprobiert und einen Radius von 2,2 km in der Karlsruher Innenstadt ausgewählt. Das ist der Mindestradius, den sie benötigt um dreimal pro Woche ins Büro und zu ihren Freund:innen zu fahren. Der ausgewählte Tarif kostet für 28 Tage 60,80 €. Alternativ könnte sie ein Jahresticket für 59 € pro Monat buchen. Der flexible Tarif wäre also umgerechnet etwas teurer, dafür muss sie kein Jahresabo abschließen, und kann den Radius alle 28 Tage verändern. Da sie ohnehin vorhat, wie Hanna in Berlin, in den Sommermonaten Fahrrad zu fahren, lohnt sich für sie der Flextarif in den Wintermonaten.
Zahl, was du fährst (Rhein-Main-Verbund, RMV Smart, BVG, eezy.nrw):
Eine weitere Möglichkeit ist es, den Ticketpreis nach der tatsächlich gefahrenen Strecke zu berechnen. Das grundlegende Ziel ist es, die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs bequemer zu machen und die Suche nach dem passenden Fahrschein zu erleichtern. Auch hierfür gibt es Beispiele aus der Praxis, die allerdings in der Theorie auf den ersten Blick etwas komplex erscheinen:
Der Rhein-Main-Verkehrsverbund bietet den Tarif RMVSmart (Modellprojekt mit 30.000 Teilnehmenden) nach dem Baukastenprinzip an. Dieser setzt sich aus einem einheitlichen Grundpreis pro Fahrt zusammen. Hinzu kommen je nach genutztem Verkehrsmittel entweder ein Entfernungspreis für die zurückgelegte Strecke hinzu (Regionalzug, S-Bahn, U-Bahn) oder ein Pauschalpreis für Bus- oder Tramfahrten (je nach Größe der durchgefahrenen Kommune). Darüber hinaus gibt es noch zwei Rabattmodelle. RMVSmart-flex wirbt mit Rabattstufen ab einem bestimmten Umsatz pro Kalendermonat. Bei einer monatlichen Zahlung von 10€ gibt es bei RMVSmart-50 50% Rabatt auf alle Fahrpreise.
Da es sich noch um ein Modellprojekt handelt, muss sich zeigen, ob der flexible Tarif irgendwann für alle Kund:innen des RMV zugänglich sein wird. Die Flexibilität scheint jedoch hoch zu sein, da nur die tatsächlich gefahrene Strecke bezahlt wird. Dabei gibt es keine Radien oder Abonnement-Verpflichtungen und Rabatte bei häufigerer Nutzung des Tarifs. Leider ist der Tarif nur digital nutzbar. Das könnte in Verbindung mit der auf den ersten Blick komplexen Struktur zu Nutzungsbarrieren führen.
Auch die BVG in Berlin hat angekündigt, ein Check-In/Check-Out Modell mit freiwilligen Proband:innen zu testen, um herauszufinden, wie eine solche App angenommen wird. Dabei wird auch untersucht, ob der Ticketkauf eine „Zugangsbarriere“ für den öffentlichen Nahverkehr darstellen kann.
Hanna muss sich viele Gedanken machen, was sie eigentlich benötigt. Sie weiß von vornherein vielleicht gar nicht, ob eines der Rabattmodelle mit ihrem Mobilitätsverhalten kompatibel sein wird. Sie muss Zeit investieren, um die möglichst beste Auswahl für sie zu treffen. Dieser Prozess könnte auch Kund:innen abschrecken. Hanna kann sich aber vorstellen, sich bei der BVG als freiwillige Testerin zu melden, sofern die nächsten Optionen Sie nicht überzeugen.
eezy.nrw:
Eezy.nrw kann in allen 5 Tarifgebieten NRWs mittels einer App genutzt werden. Auf Basis der Luftlinie zwischen Start und Ziel wird der Preis berechnet. Auf einen Grundpreis kommt ein Preis pro Luftkilometer hinzu (je nach Tarifgebiet variierende Grundpreise und Preise für Luftkilometer). Auch kleinere Umwege sind erlaubt und ergeben keinen Aufpreis. Am Ende zählt nur die Luftlinie von Start und letztendlichem Ziel. Dabei muss über die gesamte Fahrt die App im Hintergrund laufen und Ortungsdienste sowie mobile Daten müssen verfügbar sein. Das spricht wie die meisten anderen hier vorgestellten Tarife nicht alle Nutzer:innengruppen an und kann zu Nutzungsbarrieren führen.
Hanna musste während ihres Praktikums in NRW mehrmals pro Monat von Köln nach Dortmund pendeln und machte auf dem Rückweg öfter einen kleinen Umweg über Solingen, um ihre Familie zu besuchen. Das Luftlinienticket lohnt sich allerdings nur wenn sie nicht am selben Tag aus Dortmund zurückreist, da sie ansonsten günstigere Tagestickets nutzen kann. Im Großen und Ganzen ist eezy.nrw für Hanna nur günstiger, wenn sie kein Abo eingehen will und das flexible Ticket nur selten genutzt wird.
ÖPNV neu gedacht – sehr günstig oder kostenlos?
International – Tallinn: Kostenloser ÖPNV:
In Tallin wird der ÖPNV bereits seit 2013 aus sozialen Gründen kostenlos angeboten. Bereits vor 2013 wurde der ÖPNV bis zu 70 Prozent subventioniert, da sich viele Menschen den ÖPNV nicht leisten konnten. Die Fahrgastzahlen sind dadurch um etwa 14 % gestiegen. Autofahrer:innen steigen dagegen leider kaum um.
Die ausbleibenden Ticketeinnahmen werden durch höhere Parkgebühren und die Einkommensteuer ausgeglichen. Da man für die ÖPNV-Nutzung in Tallin gemeldet sein muss, sind nun mehr Bürger:innen in Tallin registriert, sodass die Mehreinnahmen durch die Einkommensteuer sogar höher als die Kosten für den ÖPNV sind.
Auch in Deutschland gab es bereits Versuche mit kostenlosem ÖPNV. Beispielsweise wurde in Templin der Nahverkehr 1998 kostenlos, wodurch die Fahrgastzahlen sprunghaft gestiegen sind. Da der Betrieb jedoch dauerhaft nicht finanzierbar war, wurde der kostenlose ÖPNV 2003 wieder abgeschafft. Eine Jahreskarte gibt es jetzt für nur 44 Euro.
In Pfaffenhofen an der Ilm haben sich durch das kostenlose ÖPNV-Angebot zwar die Fahrgastzahlen erhöht, dennoch dominiert der Pkw das Stadtbild. Der kostenlose ÖPNV ist nur ein Baustein der Mobilitätswende in der Stadt. Es wären weitere Maßnahmen wie beispielsweise höhere Parkgebühren oder die Umnutzung von Straßenraum erforderlich, um mit einem Mix aus Push- und Pull-Maßnahmen den Modal Split spürbar zur verändern. In Pfaffenhofen gibt es zudem auch Schwierigkeiten mit der Finanzierung des ÖPNV-Angebots.
Ein weiterer Versuch startet im März und April 2022 in Heidelberg, wo an vier Samstagen der ÖPNV kostenlos sein soll.
Hanna findet ein kostenloses ÖPNV-Angebot gut und würde gerne nach Tallinn ziehen. Dann müsste sie sich keine Gedanken mehr um ein Ticket machen. Aber ihren Job und ihre Freunde möchte sie für einen kostenlosen ÖPNV nicht aufgeben.
365€ Ticket Wien
Wien führte im Jahr 2012 die Jahreskarte für 365€ ein. Dieses Ticket ist in der sogenannten Kernzone Wien nutzbar. Die Jahreskarte für Senior:innen (ab 65 Jahren) ist mit 235€ noch einmal um mehr als 100€ günstiger. Für einige Wiener:innen kann ein derart günstiges Jahresabo auch große Flexibilität bedeuten.
Das Jahresticket wurde damit als „Wiener Modell“ bekannt und wird nach wie vor als solches diskutiert, wenn es darum geht ähnliche Ticketoptionen in anderen Nahverkehrsbünden einzuführen. Seit Einführung des Tickets hat sich die Zahl der Jahreskarteninhaber:innen in Wien verdoppelt. Im Jahr 2019 wurden 852.000 Jahreskarten verkauft, was bei ca. 1,9 Mio Einwohner:innen ca. 42% ergibt.
Auch Hanna hatte sich während ihres Auslandsjahrs in Wien eine Jahreskarte gekauft. Sie war begeistert, dass das Ticket im Gegensatz zu Deutschland so günstig und unkompliziert war. Sie war sehr mobil, absolut flexibel und musste sich, solange sie sich innerhalb Wiens Stadtgrenzen bewegte, nie Gedanken über Tickets oder Tarifzonen machen, sondern konnte sich einfach mit Bus, U-Bahn und der Bim fortbewegen.
Überregionales Klimaticket Österreich (KlimaTicket Ö)
Das KlimaTicket Ö wurde 2021 für 1.095€ jährlich eingeführt. Damit dürfen alle öffentlichen und privaten Schienenverkehre, Stadtverkehre und Verkehrsverbünde Österreichs genutzt werden. Dies ist insbesondere für Pendler:innen über größere Strecken oder Geschäftsreisende sehr attraktiv. Nur zum Vergleich, die Bahncard 100 der Deutschen Bahn kostet mehr als 4000€ und selbst das Umweltticket der BVG in Berlin kostet für die kleinsten Tarifzonen bereits 728€.
Die beiden vorgestellten Ticketoptionen aus Österreich werden für sehr günstig erachtet und werden als große Chance gesehen, damit Menschen ihr Mobilitätsverhalten überdenken. Die beiden Ticketsysteme bzw. deren Konditionen sind aber nicht ohne weiteres auf Deutschland übertragbar.
Fazit
Es ist positiv zu beobachten, dass einige ÖPNV-Anbieter sich aus ihrer starren Struktur lösen und mittlerweile flexible Ticketingsysteme anbieten. Gerade eezy.nrw und das RMV-Smart-Modell sind besonders spannend, weil sich die Fahrpreise nach tatsächlich zurückgelegten Kilometern berechnen und keine großen Tarifgebiete miteingepreist sind, die für die Fahrgäste gar nicht notwendig sind. Denn aktuell benachteiligen gerade Verkehrsverbünde mit Wabenstrukturen die Nutzer:innen, welche über Wabengrenzen fahren müssen, auch wenn der eigentliche Weg nur kurz ist.
Die digitalen Eintrittsbarrieren, die viele flexiblen Tickets fordern sind unbedingt zu beachten, da vor allem ältere Kund:innen des ÖPNV oftmals weniger digital affin sind. Dennoch ist es sehr wahrscheinlich, dass auch dieser Kund:innenstamm von flexiblen Ticketoptionen profitieren kann und möchte.
Die hier gezeigten Ticketoptionen (mit der Ausnahme von Tallin und dem KlimaTicket Ö) gelten oftmals nur in einem Verbundraum oder einem Bundesland. Auch hier zeigt sich bisher ein Flickenteppich, den Kund:innen erstmal durchschauen müssen. Dies ist ein Problem, dass nicht übersehen werden darf: Viele Nutzende sind von der Vielzahl an Ticketoptionen, Verkehrsverbünden, Anbietern und Apps überfordert oder genervt.
Zudem ist zu beachten, dass die Verkehrsunternehmen und -verbünde die Ticketeinnahmen zur Deckung der eigenen Kosten benötigen. Daher sind für die Umsetzung der vorgestellten Ticketalternativen andere Finanzierungswege für den ÖPNV notwendig.
Hannas Favorit war übrigens das Wiener 365€-Jahresticket, was allerdings in Deutschland in der Preiskategorie noch in keinem Verbundraum käuflich zu erwerben ist. Sehr flexibel hat Hanna darüber hinaus das eezy.nrw Ticket erlebt, da sie die Berechnung der Luftlinie, insbesondere im sehr dicht besiedelten NRW mit 5 Tarifzonen, als sehr fair empfindet. Finanziell sinnvoll ist eezy.nrw, wie die meisten der flexiblen Tickets allerdings nur, wenn Kund:innen sich aktiv damit auseinandersetzen und sich selbst ausrechnen, ob sich ein Abonnement nicht doch für sie lohnt.
Aus unserer Nuts One Sicht ist die schönste und einfachste Lösung ein kostenfreier ÖPNV für alle. Auch wenn uns bewusst ist, dass dies nicht einfach finanzierbar wäre und eine Vielzahl von Hürden zu meistern wären. Unsere „zweitbeste“ Option wäre eine deutschlandweite best-price Garantie für jegliche ÖPNV-Nutzungsgewohnheiten der Menschen. Am besten digital über nur eine App aber auch digital nicht-affine Menschen mitgedacht. Die best-price Garantie soll für tägliche Pendler:innen sowie für Gelegenheitsfahrer:innen immer und zuverlässig den richtigen Preis ermitteln.
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